Um die öffentliche Zugänglichkeit seiner Gerichtsverfahren zu erleichtern, bietet der Europäische Gerichtshof (EuGH) seit dem 26. April 2022 Inhalte via Livestreaming an. Fortan sollen Urteilsverkündungen und die Verlesung der Schlussanträge der Generalanwälte digital übertragen werden. Ein Startschuss für die Digitalisierung nationaler Gerichtshöfe?
Der Beginn einer neuen Ära
Das Internet ist Neuland – zumindest für den öffentlichen Sektor. Denn obwohl die Relevanz digitaler Plattformen verstanden wird, scheitern noch zu viele Projekte bei ihrer Umsetzung. Und während sich zahlreiche Privatunternehmen rasch an die pandemiebedingten Veränderungen anpassen konnten, hinken öffentliche Institutionen oft hinterher. Vielmehr müssten sie sogar nach der Theorie von Everett Rogers als ‚Laggards‘, also als Nachzügler der Innovation bezeichnet werden.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stemmt sich nun gegen diesen Trend und bietet Live-Übertragungen seiner Gerichtsverfahren an. Nutzer können demnach unkompliziert aus den eigenen vier Wänden die Urteilsverkündung erleben. Die Startzeiten der Livestreams werden dabei im öffentlichen Gerichtskalender vermerkt. Laut offizieller Pressemitteilung wird zudem das Protokoll in alle Sprachen übersetzt, die für den reibungslosen Ablauf der Sitzung erforderlich sind.
Europäische Länder unter Zugzwang
Während dieser Schritt in Europa innovativ erscheint, ist er keineswegs ein Novum. Der ‚Federal Court of Australia‘ überträgt schon seit Jahren gesamte Anhörungen per Livestream und macht diese im Anschluss On-Demand (Achtung: externe Verlinkung auf YouTube) verfügbar. Speziell im Fall rund um die Einreise des serbischen Tennisspielers Novak Djokovic erlangte das Service einen wahren Popularitätsschub. Darüber hinaus werden aber auch in anderen Ländern Fälle von großem öffentlichen Interesse via Video verfügbar gemacht. Als Beispiel dazu dient der aktuelle Gerichtsstreit zwischen Amber Heard und Johnny Depp, zu dem stundenlanges Videomaterial online bereitgestellt wird.
Obwohl sich das Projekt noch in einer sechsmonatigen Probephase befindet und Inhalte nach aktueller Planung nicht On-Demand verfügbar gemacht werden, nimmt der EuGH schon jetzt eine Vorreiterrolle in der Digitalisierung öffentlicher Arbeit ein. Zwar wird der Erfolg einer digitalen Plattform am Nutzerinteresse gemessen, angesichts aktueller Daten besteht aber gerade da wenig Grund zur Skepsis. Für nationale Gerichtshöfe und öffentliche Institutionen ist dies also eher ein Aufruf zu handeln als ein Grund abzuwarten.
Transparenz schafft Vertrauen
In der Vergangenheit wurde die Bedeutsamkeit von Streaming für die öffentliche Hand oft angezweifelt. Doch mit dem Generationenwechsel, den pandemiebedingten Veränderungen und dem einhergehenden Wandel in der Mediennutzung wächst die Relevanz digitaler Bewegtbildinhalte mit jedem Tag. Es reicht nicht mehr aus, Wochen später über einen Sachverhalt zu berichten. Inhalte müssen sofort verfügbar und leicht erreichbar sein. Streaming gibt Einblick in die Arbeit öffentlicher Institutionen und macht diese nahbar. Gerade in Zeiten zunehmender Medienskepsis sind Authentizität und Transparenz wichtige Faktoren zur Schaffung öffentlicher Akzeptanz.
Darüber hinaus haben europäische Länder immer noch die Chance, den Rückstand aufzuholen. Zu zeigen, dass sie sich in der Digitalisierung nicht abhängen lassen und die Autonomie der Region fördern. Dazu zählt die bewusste Entscheidung zum Einsatz 100% europäischer und DSGVO-konformer Software. Denn ein starkes, digitales Europa kann nicht auf den wackeligen Beinen unsicherer US-Dienstleister und deren intransparenter Datenpolitik stehen. Digitalisierung ‚Made in Europe‘ muss als ganzheitliches Konzept gesehen werden – vollkommen frei von Kompromissen.
Quellen und weiterführende Informationen:
Berichterstattung von heise.de